BAG, Beschluss vom 13.09.2022 – 1 ABR 22/21

Im September haben wir mit einem aktuellen Beitrag über den wohl meistdiskutierten Beschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG) im Jahr 2022 berichtet. Wie bereits damals erläutert, hat das BAG am 13. September 2022 – jedenfalls auf den ersten Blick – eine wahre „Zeitenwende“ im Arbeitsrecht eingeläutet. Die Kernaussage dieses „Grundsatzbeschluss“ war, dass Arbeitgeber bereits nach aktueller Gesetzeslage (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG) verpflichtet sind, ein System einzuführen, mit dem die von ihren Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.

Rechtsanwalt Dr. Stefan Jäkel

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Nachdem bisher nur der Wortlaut des Beschlusses bekannt war, hat das BAG inzwischen auch seine 22 Seiten umfassenden Entscheidungsgründe veröffentlicht. Aus den Entscheidungsgründen lassen sich in der Regel auch konkrete Vorgaben, die über den entschiedenen Einzelfall hinausgehen, ableiten. Bei den die Unternehmen drängenden Fragen zur Zeiterfassung bleibt die erhoffte Rechtssicherheit allerdings weitgehend aus. Solange der Gesetzgeber nicht tätig geworden ist und den Unternehmen klare und eindeutige Vorgaben zur Zeiterfassung gemacht hat, wird deshalb viel Unsicherheit bleiben.

Hintergrund der Entscheidung

Den Europarechtlichen Hintergrund sowie der konkrete Sachverhalt, der nun zur Entscheidung des BAG geführt hat, haben wir in unserem ersten Beitrag bereits erläutert. Zum besseren Verständnis des BAG-Beschlusses ist es insbesondere wichtig zu wissen, dass der Europäische Gerichtshof (Urteil vom 14.05.2019 – Rs. C-55/18) im Mai 2019 entschieden hatte, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, wonach die Unternehmen durch ein objektives, zugängliches und verlässliches System die geleistete tägliche Arbeitszeit messen müssen.

Entscheidung des BAG

Da der deutsche Gesetzgeber nach dem Urteil des EuGH bisher nicht tätig geworden ist, sah sich das BAG deshalb nun verpflichtet, die bereits bestehenden Gesetze in Deutschland im Sinne des EuGH-Urteils auszulegen. So folge konkret aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG, dass deutsche Unternehmen verpflichtet seien, die Dauer der täglichen Arbeitszeit mit deren Beginn und Ende sowie der Überstunden ihrer Mitarbeiter zu erfassen. Dies gelte unabhängig von der Größe des Unternehmens und unabhängig davon, ob ein Betriebsrat bestehe oder nicht.

Vorgaben und Folgen für die Praxis

Für die Praxis stellten sich nun insbesondere die Fragen, was alles zur Arbeitszeit zählt und wie und durch wen die Erfassung konkret zu erfolgen hat. All diese Fragen waren weder aus der vom BAG herangezogenen Vorschrift noch aus dem Beschlusstenor abzuleiten. Auch die nun vorliegenden Entscheidungsgründe beantworten diese Fragen nicht abschließend. Dies war wohl auch nicht zu erwarten. Letztendlich ist ein Gerichtsbeschluss auch kein Gesetz und ein Gericht kein Ersatzgesetzgeber. Gleichwohl lassen sich einige Vorgaben aus der BAG – Entscheidung doch ableiten. Da davon auszugehen ist, dass sich die Arbeitsgerichte an diese Rechtsprechung gebunden fühlen, sollten Unternehmen diese Vorgaben bis zu einer derzeit nicht absehbaren Klarstellung durch den Gesetzgeber auch unbedingt halten.

1. Arbeitszeit

Auch das BAG kann die Grundsatzfrage, wann Arbeitszeit vorliegt und wann nicht, wenig überraschend nicht zufriedenstellend lösen. Zwar dürfte es in den meisten Fällen (bspw. Fließbandarbeit) noch relativ klar auf der Hand liegen. In der modernen Arbeitswelt und der jederzeitigen Erreichbarkeit verschwimmen die Grenzen jedoch immer mehr. Auch Gespräche mit Kollegen in der Teeküche können grundsätzlich geschäftlicher oder privater Natur sein.

Geht man davon aus, dass die Arbeitszeiterfassung lediglich der Kontrolle der Arbeitszeit im Sinne des Arbeitsschutzes und nicht der Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen Sinn dient, könnte hier viel dafürsprechen, dass in solchen Fällen schon keine Arbeitszeit vorliegt. Im Zweifel dürfte es aber angebracht sein, in den Unternehmen pragmatische und umsetzbare Regelung festzulegen, um den bürokratischen Aufwand nicht noch weiter auf die Spitze zu treiben. Sofern diese Umsetzung nicht völlig unvertretbar ist, sollten diese Regelungen dann auch vor Gericht standhalten.

2. Vertrauensarbeitszeit

Unter Vertrauensarbeitszeit werden häufig genug ganz unterschiedliche Regelungskomplexe verstanden, sodass es hier schon kein einheitliches Begriffsverständnis gibt. Soweit man darunter aber die grundsätzlich freie Einteilung der Arbeitszeit durch die Arbeitnehmer versteht, bleibt diese auch nach dem Beschluss des BAG weiterhin möglich. Versteht man unter Vertrauensarbeitszeit dagegen eine Regelung, wonach Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit nicht aufzeichnen müssen und somit quasi keine Kontrolle der Arbeitszeit, sondern nur des Arbeitsergebnisses stattfindet (insofern Vertrauen), wird diese nach dem Beschluss des BAG nicht mehr möglich sein.

3. Art und Weise der Erfassung

Aus den Entscheidungsgründen lässt sich nun jedenfalls zunächst mit Sicherheit ableiten, dass keine bestimmte Form der Arbeitszeiterfassung vorgeschrieben ist. Die Erfassung muss also nicht zwingend elektronisch erfolgen, auch Stift und Papier können hierfür grundsätzlich ausreichen. Entscheidend ist – schon nach dem Urteil des EuGH –, dass die Erfassung objektiv, verlässlich und zugänglich erfolgt.

Des Weiteren lässt sich aus den Entscheidungsgründen nun ablesen, dass die Arbeitszeiterfassung auch nicht unmittelbar durch den Arbeitgeber selbst erfolgen muss. Vielmehr kann diese Verpflichtung an die Arbeitnehmer delegiert werden. Allerdings können sich Arbeitgeber auf diese Weise nicht vollständig ihrer Verpflichtungen entledigen:

Aus den Entscheidungsgründen folgt nämlich schließlich auch noch, dass der Arbeitgeber sich nicht darauf beschränken kann, die von den Arbeitnehmern erfassten Daten lediglich zu speichern. Die Unternehmen müssen die Arbeitszeiten vielmehr „erheben“. Es reicht deshalb nicht schon aus, dass der Arbeitgeber lediglich ein System zur Dokumentation der Arbeitszeiten zur Verfügung stellt, das der Arbeitnehmer – mehr oder weniger – freiwillig nutzen kann. Der Arbeitgeber muss vielmehr auch dafür Sorge tragen, dass es tatsächlich genutzt wird. Das heißt konkret: Arbeitgeber sollten ihre Mitarbeiter dazu verpflichten, das bereitgestellte Erfassungssystem zu verwenden. Da der Arbeitgeber diese Verpflichtung auch nachweisen muss, sollte sie nicht nur mündlich erfolgen. Auch müssen die Arbeitgeber die Erfassung (jedenfalls stichprobenhaft) kontrollieren, um auf der sicheren Seite zu sein.

Offene Fragen

Neben dem oben beschriebenen Problem, die Arbeitszeit praktikabel bzw. überhaupt zu definieren, bleiben nach der Veröffentlichung der Entscheidungsgründe noch weitere Fragen offen. So bleibt bspw. unklar, ob die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung auch für sog. (echte oder unechte) Leitende Angestellte gilt. In der Entscheidung kam es auf diese Frage nicht an, da es allein um die Frage der Reichweite der Mitbestimmung durch den Betriebsrat ging. Ohne weitere Klarstellungen durch das BAG lassen sich hier beide Ansichten gut vertreten. Wer ganz sicher gehen will, sollte also wirklich alle Arbeitnehmer in das Zeiterfassungssystem einschließen. Für den, der hier einen eher pragmatischen Weg einschlagen möchte, stellt sich die Frage, welche Risiken ihm bei einer Fehleinschätzung drohen. Doch auch hier sind nach wie vor viele Fragen offen. Bußgelder sind aktuell nur vorgesehen, soweit der Arbeitgeber seiner Pflicht zu Erfassung der über 8 Stunden hinausgehenden Arbeitszeit nicht nachkommt. Ob aus der pflichtwidrigen fehlenden Erfassung noch weitere Konsequenzen folgen, bleibt dagegen zunächst unklar. Möglich wären bspw. Beweiserleichterungen für Arbeitnehmer, die von ihrem Arbeitgeber Überstundenvergütung einklagen wollen. Auch Schadensersatzansprüche in Fällen, in denen der Arbeitgeber die Arbeitszeit pflichtwidrig nicht kontrolliert und aufgrund der Überschreitung der zulässigen Arbeitszeit Unfälle passieren, können aktuell nicht ausgeschlossen werden.

Die wichtigsten Punkte zusammengefasst:

  • Die Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit gilt ab sofort und für alle Arbeitgeber jeder Größe
  • Arbeitgeber müssen Beginn, Ende und Pausen (=Dauer der Arbeitszeit) erfassen.
  • Die Pflicht gilt für alle Arbeitnehmer; ob auch für leitende Angestellte ist derzeit offen
  • Weder aus Gesetz noch aus den Entscheidungsgründen folgen konkrete Vorgaben zur Art der Erfassung. Die Erfassung ist also manuell oder elektronisch möglich.
  • Delegation der Erfassung auf die Arbeitnehmer ist möglich ist; der Arbeitgeber muss die Arbeitnehmer dann aber verpflichten und darf nicht nur lediglich die Möglichkeit geben. Arbeitgeber muss auch stichprobenartig kontrollieren.

Weiterführende Informationen:

  • Zu unserem ursprünglichen Beitrag gelangen Sie hier.
  • Zum Beschluss des BAG auf der Seite des BAG gelangen Sie hier.
  • Die Entscheidungsgründe im PDF-Format zum Download finden Sie hier.

Das Beratungsangebot von GKD Rechtsanwälte im Arbeitsrecht

GKD-Rechtsanwälte berät Arbeitgeber und Arbeitnehmer umfassend in allen Fragen des Arbeitsrechts – insbesondere natürlich auch zur neuen Rechtsprechung zur Zeiterfassung. Wir unterstützen Ihr Unternehmen auch bei der Durchsetzung und der Abwehr von Ansprüchen aus einem Arbeitsvertrag mit Ihren Mitarbeitern. Gerne entwerfen wir für Sie auch einen rechtssicheren Arbeitsvertrag oder passen diesen bei Bedarf an die aktuelle Rechtslage und die neuste Rechtsprechung an.

Für alle Fragen rund um das Arbeitsrecht stehen Ihnen unsere Fachanwälte für Arbeitsrecht Dr. Rolf Stagat und Thomas Zürcher, LL.M. sowie Herr Rechtsanwalt Dr. Stefan Jäkel und Frau Rechtsanwältin Cornelia Kuhn sehr gerne zur Verfügung.

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