Weiji – Krise und Chance
Die chinesischen Schriftzeichen für Krise und Chance sind gleich, heißt es. Jede Krise bietet Chancen. Bei Problemen sollte der Blick stets auf die Möglichkeiten zur Lösung gerichtet sein. Dass Krise und Chance eng verbunden sind gilt auch für Gesellschafter-Geschäftsführer und Arbeitnehmer-Gesellschafter, deren Gesellschaft sich mit hohen Beitragsnachzahlungsforderungen der Rentenversicherungsträger konfrontiert sieht. Die Krise für das Unternehmen entsteht durch unverhoffte Zahlungsverpflichtungen gegenüber der Deutsche Rentenversicherung Bund. Die Chance zur Problemlösung bietet die Rechtsprechung des BGH und der Oberlandesgerichte zur Steuerberaterhaftung. Dass von Beitragsnachforderungen betroffene Unternehmen oft gute Chancen haben, sich an ihren Steuerberatern schadlos zu halten, verdeutlicht das aktuelle Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 8. April.2022 (OLG Hamm, Urteil vom 08.04.2022 – 25 U 42/20).
Autor: | Dr. Rolf Stagat |
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Jahrzehntelang war es üblich und gängige Praxis, dass in Familiengesellschaften mitarbeitende Familienmitglieder keine Sozialversicherungsbeiträge gezahlt, sondern die Freiheit genossen haben, sich privat zu versichern, um bessere Leistungen für ihr Geld zu bekommen. Sowohl von den Rentenversicherungsträgern als auch von den Sozialgerichten wurde dies toleriert und abgesegnet. Das Privileg, sich nicht der Sozialversicherung unterordnen zu müssen, galt unabhängig davon, ob die Familienmitglieder als Gesellschafter-Geschäftsführer, Mehrheits- oder Minderheitsgesellschafter oder ohne Geschäftsführeramt Arbeitnehmer- Gesellschafter waren. Dass sie nicht als Beschäftigte im sozialversicherungsrechtlichen Sinn galten, sondern als freie Unternehmer, die keinen Weisungen unterworfen sind, wurde mit der familienhaften Rücksichtnahme begründet, wonach Mitglieder der Unternehmerfamilie im Betrieb frei schalten und walten können, ohne durch Weisungen der Gesellschaftermehrheit eingeschränkt zu werden. Um der Sozialversicherungspflicht zu entgehen genügte es, dass man sich als „Know-How-Träger“ oder als „Kopf und Seele“ des Betriebs darstellen konnte.
Diese Gewissheit, sich als Mitglied der Unternehmerfamilie bequem der Sozialversicherungspflicht entziehen zu können, wurde durch die sog. Novemberurteile des Bundessozialgerichts vom 11.11.2015 jäh beseitigt. Das Bundessozialgericht lässt die Familienbande als Begründung unternehmerischer Selbständigkeit nicht mehr gelten, sondern behandelt nur noch als selbständig – und somit nicht sozialversicherungspflichtig – wem durch den Gesellschaftsvertrag die Rechtsmacht eingeräumt ist, unliebsame Beschlüsse der Gesellschafterversammlung zu verhindern (https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/legacy/184401?modul=esgb&id=184401).
Seit dieser Rechtsprechungsänderung sind unzählige Familiengesellschaften mit Beitragsnachzahlungen an die Deutsche Rentenversicherung Bund in erheblicher Höhe konfrontiert worden. Die Deutsche Rentenversicherung Bund ist derzeit dabei, „Altfälle“ aufzuarbeiten. Wird im Rahmen einer sozialversicherungsrechtlichen Betriebsprüfung festgestellt, dass Gesellschafter-Geschäftsführer, Fremdgeschäftsführer oder Arbeitnehmer-Gesellschafter nicht über ein satzungsmäßiges Vetorecht oder eine mindestens 50%ige Beteiligung verfügen, werden sie als abhängig beschäftigt eingestuft. Die Folgen für die Gesellschaft sind gravierend: die Beitragsnachforderungen können, insbesondere wenn mehrere mitarbeitende Familienmitglieder betroffen sind, mehrere hunderttausend Euro betragen.
Das kann bei den betroffenen Gesellschaften nicht nur zu Liquiditätsproblemen, sondern im Einzelfall bei kleineren Unternehmen auch zu einem Insolvenzgrund führen. In einer solchen Krise der Gesellschaft beachten ihre Gesellschafter und Geschäftsführer oft nicht, dass es für sie auch in dieser Situation eine Chance gibt. Nämlich die, einen Dritten für den eingetretenen Schaden in Regress zu nehmen.
Ein Steuerberater, der die Lohnbuchhaltung für ein Unternehmen übernommen hat, muss bei schwierigen sozialrechtlichen Fragen dem Mandanten empfehlen, den Rat eines auf diesem Gebiet erfahrenen Rechtsanwalts einzuholen. Das hat der Bundesgerichtshof schon im Jahr 2004 entschieden (BGH, Urteil vom 12. 02. 2004 – IX ZR 246/02, NJW-RR 2004, 1358). Geradezu lehrbuchmäßig begründet nun ein aktuelles Urteil des Oberlandesgerichts Hamm, dass Steuerberater für sozialversicherungsrechtliche Nachzahlungsbeträge einer GmbH haften, wenn sie bei schwierigen Fragen der sozialversicherungsrechtlichen Einordnung von Gesellschafter-Geschäftsführern nicht eine Prüfung durch einen Rechtsanwalt empfehlen (OLG Hamm, Urteil vom 08.04.2022 – 25 U 42/20). Das OLG Hamm behandelt zunächst die Haftung von Steuerberatern dem Grunde nach und führt aus, dass der Steuerberater, der mit der Lohnbuchführung beauftragt ist, zur Beratung in sozialversicherungsrechtlichen Fragen auch in Bezug auf die Beitragspflicht weder berechtigt noch verpflichtet ist, dass er aber im Rahmen der sich als Nebenpflicht aus dem Steuerberatervertrag ergebenden vertraglichen Schadensverhütungspflicht bei Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art zu raten hat, einen Rechtsanwalt aufzusuchen oder eine Statusprüfung nach § 7a StGB IV anzuregen.
Das Urteil befasst sich darüber hinaus eingehend mit den schadensrechtlichen Aspekten. Sozialversicherungsrechtliche Nachzahlungsbeträge der GmbH für die Gesellschafter-Geschäftsführer kommen als Schaden der Gesellschaft in Betracht. Etwaige Vorteile der Gesellschafter-Geschäftsführer sind für den im Rahmen der Schadensermittlung anzustellenden Gesamtvermögensvergleich nicht im Wege einer konsolidierten Schadensbetrachtung einzubeziehen. Nach der Entscheidung des OLG Hamm ist davon auszugehen, dass Gesellschafter-Geschäftsführer im Falle einer sachkundigen Beratung den Gesellschaftsvertrag abgeändert und eine Sperrminorität vereinbart hätten, um zu verhindern, dass sie sich ihnen nicht genehmen Weisungen beugen müssen.
Die betroffene GmbH bekam vom OLG Hamm als Schaden die Nachzahlungsbeträge für ihre Gesellschafter vollständig zugesprochen. Steuervorteile der GmbH, wie sie sich aufgrund einer Gewinnminderung durch die Nachzahlung ergeben können, sind nicht anzurechnen, da auch die Schadensersatzleistung ihrerseits zu versteuern ist. Auch etwaige Vorteile der Gesellschafter aus der Sozialversicherungspflicht – wie der Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherungsträger – sind für den im Rahmen der Schadensermittlung anzustellenden Gesamtvermögensvergleich nicht einzubeziehen. Der Steuerberater hatte der GmbH deshalb im Ergebnis die Beitragsnachzahlungen an die Deutsche Rentenversicherung Bund in voller Höhe als Schadensersatz zu erstatten.
Das Urteil des OLG Hamm verdeutlicht: Weiji, in jeder Krise gibt es auch eine Chance!
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